Drei Tagesritte vom Bodensee

Der Sohn des Mars - Leseprobe

Ich lausche seinem Atem. Es ist nicht mehr als ein leises Keuchen. Er presst seine Hand auf die Wunde, aus der unaufhörlich Blut hervorquillt. Mit beharrlicher Zähigkeit hält er an seinem kläglichen Dasein fest. Ich empfinde weder Mitleid mit ihm noch Reue über meine Tat, denn die Bilder von damals lassen mich nicht los. Er hat mein Leben zerstört.

Nie zuvor hatte ich meinen Vater Helius enttäuschter erlebt als an jenem Morgen vor zwei Jahren. Er stand mit dem Rücken zur Werkbank. Seine rauen Finger umklammerten den Griff des Messers mit der halbmondförmigen Klinge so fest, dass die Gelenkknochen weiß hervortraten. Seine grauen Augen musterten Divico wie ein eitriges Geschwür. »Jetzt bist du einer von ihnen Divico. Du solltest meine Werkstatt übernehmen und meine Tochter Silva heiraten. Stattdessen bist du nun ein Reiter der Auxiliaren. Geh«, die Stimme meines Vaters bebte. »Geh und komme niemals mehr wieder.«

Ich erinnere mich nicht mehr an alle Beleidigungen, mit denen Divico meinen Vater an diesem Tag überschüttete. Eine jedoch prägte sich unauslöschlich in meine Gedanken ein: »Sohn einer Wölfin!« Divicos’ Stimme kippte. Danach verschwand er aus unserem Vicus. Und obgleich mein Vater ihn all die Jahre wie seinen eigenen Sohn geliebt und gefördert hatte, verlor er nie wieder ein Wort über ihn. Es war als habe es Divico niemals gegeben. Bis er plötzlich wieder in unserer Werkstatt auftauchte.

Die feinen Schuhe des Helius waren selbst über die Grenzen unseres Vicus’ bekannt. Jeder, der etwas auf sich hielt, kam mit seinen Wünschen zu uns. Einmal im Monat reiste ich nach Vitodurum, einer Siedlung weiter östlich in der Nähe des Lacus Brigantium, um bestelltes Leder abzuholen. Seit ich denken kann, verwendet mein Vater das Leder dieses Gerbers. Nicht, dass wir in der Aquae Helveticae keinen Gerber gehabt hätten. Doch seit mein Vater diesen öffentlich einen »Stümper!« genannt hatte, war das Verhältnis zu ihm merklich abgekühlt. Der Gerber unseres Vicus blieb auf seinem Leder sitzen, was ihn in die Trunksucht trieb und seine keifende Frau in den Wahnsinn. Sie versuchte sogar, unseren Schuppen anzuzünden. Wild schwenkte sie die Fackel über ihrem Kopf und schrie immerzu: »Helius! Komm raus! Helius!« Jemand schickte nach dem Ädil und dieser brachte sie fort. Ich habe sie erst wieder gesehen, nachdem die einundzwanzigste Legion unseren Vicus in Schutt und Asche gelegt hatte. Sie wirkte seltsam ruhig und als sie mich erkannte, flüsterte sie plötzlich: »Nur der Tod ist gerecht. Selbst die ärgsten Verbrecher können sich nicht vor ihm schützen.« Kurz darauf begannen die Verfolgungen…

(Ende Leseprobe)

Historischer Hintergrund

Römische Legionen waren es gewohnt von einer ›Ecke‹ des Römischen Reiches zur anderen ›verlegt‹ zu werden. Für die Legionäre bedeutete ein Wechsel vor allem eines: Marschieren. Und zwar häufig wochenlang. Die LEGIO RAPAX XXI wurde von Kaiser Augustus errichtet. Ihr Zeichen war deshalb nicht ohne Grund das Bildnis des Capricorns - es handelte sich dabei um das Sternzeichen des Kaisers. Die Legion war einige Zeit in Oberitalien stationiert. Unter Drusus, einem der beiden Stiefsöhne des Kaisers, nahm sie 15 v. Chr. am Alpenfeldzug teil. Wahrscheinlich wurde die Legion um 6 n. Chr. nach Xanten verlegt. Später dann unter Claudius nach Windisch verbracht. Um 69 n. Chr. kam es zu den Auseinandersetzungen mit den Helvetiern, die ich in der Kurzgeschichte »Der Sohn des Mars« aufgegriffen habe.

Das Foto zeigt eine vereinfachte Darstellung des Signums der LEGIO RAPAX XXI.