Das steinerne Auge

Die Schicksalsgöttinnen

Segestes presste die Lippen aufeinander, während sein Blick dem Mann folgte, der mit einem Schwert- hieb den Kopf vom Rumpf des Toten abtrennte. Seine derben Finger krallten sich in das Haupthaar des Schädels und rissen ihn in die Höhe. Sofort begann ein ohrenbetäubender Jubel, der alle gleichermaßen ergriff und dem auch Segestes sich nicht zu entziehen vermochte, wollte er inmitten der Edlen nicht auffallen. Niemand sollte ihm anmerken, dass in diesem Augenblick alle seine Träume in tausend Einzelteile zersplittert vor ihm lagen. Morta, eine der drei Schicksalsgöttinnen, hatte ihr Urteil gefällt und diesem musste er sich beugen … 

***

Die Nachricht, der römische Kaiser habe einen Statthalter für die Germania Magna berufen, erreichte Segestes, als er bei der Schlachtung eines kranken Schweins zusah. Er gab dem Boten einen knappen Wink, im Haupthaus auf ihn zu warten. Schwerfällig, als sei er der Greis der Siedlung und nicht ihr Anführer, stieß er sich vom Gatter ab und stampfte über den Platz. »Publius Quinctilius Varus«, berichtete sein Bote endlich, nachdem er einen bis zum Rand gefüllten Becher Bier geleert hatte. »Ein Verwandter des Kaisers, der Glückliche. Hat eine Großnichte von Augustus geheiratet. Die soll unglaublich schön sein! Aber ein Biest«, gluckste er vergnügt. Segestes nickte ihm ungeduldig zu. Was interessierte ihn Varus’ Frau! Sie würde den Posten des legatus Augusti pro praetore, wie die offizielle lateinische Bezeichnung lautete, nicht übernehmen. »Die Leute im Vicus erzählen sich, dass Varus seine Claudia Pulchra sogar mitbringt. Sie sind alle fürchterlich aufgeregt deswegen und bestellen sich reihenweise neue Stoffe bei den Händlern. Die Preise sind rapide angestiegen. Beim Merkur, die Händler werden sich die Hände reiben. Aber«, er blinzelte Segestes verschwörerisch zu und entblößte dabei eine Reihe schwarzer Zahnstümpfe in seinem Mund, »du kannst völlig unbesorgt sein. Ich habe meine Quellen. Wenn du einen neuen Stoff brauchst, wende dich an mich. Ich habe einen äußerst exquisiten gesehen … der würde dir gefallen. Für besondere Gelegenheiten, wenn du verstehst. – Varus«, begann er von Neuem, die Ungeduld seines Gegenübers spürend, »ist ein alter Mann. Alt, aber gut. Bringt viel Erfahrung mit, die er lange Jahre in der Provinz Syria gesammelt hat.« Der Bote lachte plötzlich laut auf und rutschte an Segestes heran: »Die da unten sind wohl mächtig froh, dass der alte Sack endlich übers Meer zurück nach Rom geschippert ist. Es heißt, er hat Syria ganz schön ausgenommen. Er- zählen sich die Leute im Vicus! Ein riesiges Schiff soll er mit teuerem Elfenbein, kostbaren Zitrusholztischen, seltenen Ölen und wohlriechenden Parfümen und etlichen Büsten und Statuen beladen haben. Wahrscheinlich alles für dieses raffgierige Biest, das er zu Hause in seiner Villa in Tibur sitzen hat. Man erzählt, sie könnte auch seine Enkelin sein. Die Römer und ihre Frauen!« Er lachte erneut und sein Atem verströmte den fauligen Geruch eines toten Vogels, sodass Segestes zurückwich.

»In ein paar Tagen wird er mit seinem Gefolge das große Militärlager an der Lippe erreichen, sagen die Frauen. Die müssen es wissen. Haben es von ihren Legionären und die haben es von ihren Centurionen gehört und die wiederum wissen es von ihren Vorgesetzten… Man munkelt, Varus führt Gestalten aus dem Totenreich mit sich, von solch dunkler Farbe ist ihre Haut …« Er erkannte Varus sofort. Mit durchgedrücktem Rücken, das Kinn energisch nach vorne gereckt, saß er auf seinem Pferd und führte seinen Tross an, wie der ruhmreiche Sieger eines Kampfes, der selbstbewusst den ihm gebührenden Platz einnimmt. Phalerae, die das Sonnenlicht spiegelten, schmückten seinen Panzer. Varus wirkte auf Segestes wie ein strahlender Olympionike, von den Göttern geliebt. Plötzlich fing die Menge hysterisch an zu kreischen. Der Fenstervorhang des hölzernen Reisewagens hatte sich sanft bewegt und dahinter erschien nun ein mädchenhaftes Gesicht, dessen ebenmäßige Züge Segestes an eine Statue erinnerten. Claudia Pulchra, Varus’ junge Frau, lächelte verhalten in die Menge.

»Claudia Pulchra!», skandierte der Plebs. »Claudia Pulchra!« Immer lauter erschallten ihre rhythmischen Rufe, in die sich nun auch wieder erste »Varus!«-Rufe hineinmengten. Die Stimmen verebbten erst, als der Tross im Legionslager verschwand und die Wachen die schweren Eichentore zuschlugen.

Das schmale Wachstäfelchen trug das Siegel des Statthalters. Mit zittrigen Händen brach Segestes es und überflog aufgeregt die Zeilen, die Varus’ Sekretär in penibler Schrift in das Wachs hineingedrückt hatte. Er lud ihn, Segestes, den edlen Fürsten eines cheruskischen Stammes und römischen Bürger, zum intimen Gastmahl ein. Segestes dunkle Augen blitzten auf, während er das Täfelchen fest gegen seine Brust drückte, wie eine verliebte junge Frau den Brief ihres Angebeteten. Seitdem er die Einladung erhalten hatte, las er sie mindestens einmal am Tag. Nun war der Tag des Gastmahls gekommen und wieder schlug er das Wachstäfelchen auf und fuhr mit seinem Zeigefinger sachte über die eingeritzten Worte, als er sie laut vorlas. Sein Herz klopfte und drohte vor Freude schier zu zerspringen. Dies war die erste offizielle Einladung des Statthalters. Eilig wies er seine Frau an, seine neue Tunika herauszulegen. Die weißliche, die aus dem kostbaren Stoff, rief er ihr hinterher, wobei sich seine Stimme vor Aufregung überschlug. Er bedauerte es, bei diesem Regen auf seinem Pferd keine Toga tragen zu können. Irgendwann brauche ich einen komfortablen Reisewagen, dachte er nicht zum ersten Mal. Nun, für diese erste Einladung musste ein Mantel aus feinem Stoff reichen. Summend und bester Laune zog er seine Tunika über den Kopf, gürtete sie knapp unter seinem Bauch und fuhr sich anschließend über die ihm verbliebenen, weißlichen Haupthaare, die seinen Schädel zierten. Während er sich ächzend bückte, um seine Calcei zu binden und dabei wie so häufig seine Körper- fülle verfluchte, fiel ihm das Geschenk ein. Ungeduldig rief er erneut nach seiner Frau und verlangte von ihr, ihm aus der Truhe das Holzkästchen herzuholen. Selig hielt er es kurz darauf in seinen Händen und strich mit seinen dicklichen Fingern über das Holz. Er öffnete den bronzenen Verschluss und blickte liebevoll auf den Gegenstand, der darin verborgen lag. Auf einem weichen Leder thronte ein ovaler Stein. Ungeschickt kramte Segestes ihn heraus. Seine Finger bekamen ihn nicht richtig zu fassen und so fiel der Stein von der Hand auf seinen Schoß und landete mit lautem Poltern auf dem Boden. Ein panischer Schreck fuhr Segestes durch den Körper. Er warf sich auf die Knie, um den kostbaren Stein aufzuheben. Schnaufend hielt er ihn in seiner Faust und wuchtete seinen Körper zurück auf den Hocker. »Mein Augenstein«, nannte er ihn. Segestes würde nie vergessen, wie dieser Stein zu ihm gefunden hatte. Es war an einem heißen Sommertag und Segestes bekam das römische Bürgerrecht verliehen. Auf dem Heimweg traf er einen Händler, der eine Kiste mit kostbaren Edelsteinen verlud. Ein bernsteinfarbener fiel heraus, kullerte Segestes bis vor die Füße und starrte ihn an. Er bückte sich zu ihm herunter, hob ihn auf – und wusste sofort: Diesen Stein hatten ihm die Götter als Glücksbringer geschickt. Etliche Sesterze hatte der Händler verlangt und Segestes zahlte sie bereitwillig. Vorsichtig legte er ihn zurück in sein schützendes Bett. Es würde ihm schwerfallen, sich von ihm zu trennen. Dennoch. Varus war der mächtigste Mann in Germanien. Segestes musste seinen Glücksbringer nur in dessen Nähe bringen, um an dieser Macht teilzuhaben. Auf dass mein Augenstein unsere Schicksale glücklich miteinander verbindet, dachte Segestes.

(Ende Leseprobe)